Spielbeurteilung

Blackhaven

03.05.2023
Aus der Perspektive einer Marketing-Praktikantin erleben wir, wie die Fassade des renommierten Museums für Amerikanische Geschichte nach und nach zu bröckeln beginnt.
Praktikantin Kendra findet Gefallen an einigen Exponaten, während sie das Museumsquiz testet.

Im kostenlosen PC-Titel Blackhaven schlüpfen wir in die Rolle der Praktikantin Kendra Turner und bestreiten einen Arbeitstag im Museum der Blackhaven Hall Historical Society. Da das restliche Kollegium für eine Festlichkeit außer Haus ist, sind wir auf uns allein gestellt und arbeiten eine ausgestellte To-Do-Liste ab. So testen wir beispielsweise das bisher unveröffentlichte Museumsquiz der Dauerausstellung und den geplanten Audio-Guide. Wir digitalisieren Akten aus dem Archiv und erschließen uns Stück für Stück den innovativ mit Glas rekonstruierten historischen Bau. Einige Ungereimtheiten verleiten die von uns gespielte Kendra jedoch dazu, darüber hinaus auf eigene Faust Nachforschungen zu starten, die die Grenzen ihrer Befugnis überschreiten.
Kendra ist nicht vom Fach. Sie macht ein Marketing-Praktikum bei der Blackhaven Hall Historical Society und erhofft sich, dadurch ein Empfehlungsschreiben für einen Auslandsaufenthalt zu bekommen. Gemeinsam mit ihr lernen wir die Strukturen des Museums kennen und werden mit den Problemen dahinter konfrontiert.

Eigentlich widmet sich das Museum der Geschichte des fiktiven Gründervaters Thomas Harwood. Ein Blick hinter die Fassade des Museums lässt Kendra an der Darstellung zweifeln. Einerseits zeigen die Ausstellungen einen familiennahen, kultivierten und heldenhaften Freiheitskämpfer. Andererseits werden Dokumente, die Thomas Harwoods Familien- und die Stiftungsgeschichte in einem schlechten Licht dastehen lassen, in einem doppelt gesicherten Aktenschrank in der hintersten Ecke des Archivs gelagert. Im Verborgenen offenbart sich nicht nur die menschenverachtende Natur der Sklaverei, sondern auch jüngere Bestrebungen der Museumgesellschaft, gewissenhafte Forschende zu diskreditieren, die die Schwarze Geschichte in Blackhaven zu rekonstruieren versuchen. Die gezielte Auslassung von unliebsamen Geschichten, um die Reputation des Hauses – und damit verbunden auch die finanzielle Förderung – zu erhalten, zeigt wie gewaltvoll und repressiv der stille Museumsraum tatsächlich sein kann.

Die Protagonistin findet im Archiv Überbleibsel der Sklavenhaltung der Harwoods, die in der Ausstellung keine Erwähnung findet.

Erst wenn die Protagonistin bestimmte Lücken in der Geschichte gefüllt hat, erscheinen ergänzende Kommentare, zum Beispiel zu Schwarzer Persönlichkeiten in der US-Amerikanischen Geschichtsschreibung. Da im Spielfluss historische Beinahe-Originaltexte auf einordnende Kommentare treffen, gleicht das Erlebnis in Blackhaven einer tatsächlichen Museumsführung kritischer Lesart. Diese lockert Protagonistin Kendra durch ihren schlagfertigen Humor und ihre authentischen Reaktionen auf die pathetische Präsentation der Harwood-Dynastie immer wieder auf.

Ein Blick herab von der obersten Etage der verwirrenden Glasrekonstruktion des Hauses der Harwoods.

Steuerung und Design
Das Spiel ist so einfach wie möglich gehalten: Neben der konventionellen WASD-Steuerung begrenzen sich die Eingaben auf drei weitere Tasten, die für das Schließen eines Betrachtungsmodus, eine Zoom-Funktion und ein schnelleres Lauftempo zuständig sind. Letzteres ist jedoch nur für die eigene Zeitwirtschaft von Relevanz, denn bei Blackhaven geht es nicht darum, schnell zu sein. Lesezugeneigten Spielenden, deren Muttersprache nicht die englische ist, kommt das entgegen, denn die Sprachanforderung schraubt sich besonders dann hoch, wenn man auf historische Textstücke stößt, die spätestens dann womöglich einige Blicke in ein Wörterbuch verlangen.

Ein weiterer ungewollter Zeitfresser sind die Orientierungsschwierigkeiten beim Begehen der gläsernen Gebäuderekonstruktion. Diese hebt sich in der Tiefe im graphischen Raum kaum ab, was uns die Navigation erheblich erschwert. Des Öfteren laufen wir gegen das Geländer oder verirren uns. Dabei sei erwähnt, dass Blackhaven graphisch wahrlich keine Schönheit ist und mit einigen Performanceproblemen zu kämpfen hat.
Ein Scheitern ist im Spiel dadurch jedoch nicht zu befürchten. Der einzige Quasi-Game-Over-Screen passiert mit einer Abgabe drei falscher Antworten im einleitenden Museumsquiz. Die Konsequenz ist eine Wiederholung des Rätsels, das aber nur einige Minuten dauert. Zielorientierte Spielende erreichen den Abspann in zwei Stunden, während diejenigen, die sich alle Inhalte erschließen wollen, mit mindestens einer Stunde extra rechnen sollten.

Warum nicht gleich ein Adler? Der überzogene Patriotismus des Blackhaven-Museums lässt die Protagonistin zur Zynikerin werden.

Navid Nail
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Pädagogische Beurteilung:

Als unübersetztes Spiel eines US-amerikanischen Entwicklerstudios erfordert Blackhaven eine Umgebung, in der man eine Vielzahl englischsprachiger Text- und Sprachinhalte auf hohem Niveau aufmerksam bearbeiten kann. Denn obwohl die Schriftstücke beliebig lange verfügbar bleiben, sind die mit Untertiteln und Sprachausgabe versehenen Kommentare der Protagonistin binnen Sekunden verschwunden. Diese nachzuschlagen erfordert eine Wiederholung des Kapitels, womit jedoch der Spielfluss unterbrochen wird. Empfehlenswert ist daher eine individuelle Begehung von Blackhaven im Ruhigen, die um ausgewählte Vokabelhilfen ergänzt wird.

Doch auch für Bildungsvorhaben ist das Spiel geeignet: Sind die Weichen gestellt, bietet Blackhaven einen pointierten und nahbaren Zugang in die Themen der Dekolonialisierung und des systemischen Rassismus.
In der Schule eignet sich Blackhaven für die Implementierung im Geschichtsunterricht mit Schwerpunkt auf die Geschichte der USA beziehungsweise die gesellschaftlichen Funktionsweise der Geschichtsschreibung und im Englischunterricht mit Fokus auf die USA. Im Politikunterricht könnte das Spiel ein Anlass sein, die institutionelle Repräsentation benachteiligter Gruppen zu besprechen. So könnte eine Unterrichtsstunde die Frage stellen „Wer schrieb bisher die Geschichte?“ Mit einem Blick in den weiß-männlich dominierten Literaturkanon, kann sich die Frage gestellt werden, wie gesellschaftliche Teilhabe und kulturelle Teilhabe zusammenhängen. Die Lernenden können dazu im Kontext der Repräsentationsproblematik zu kritischem Denken hinsichtlich der Macht tradierter Narrative und derjenigen von Institutionen wie Museen angeregt werden. Texte der Kulturwissenschaftlerinnen Ariella Azoulay und Saidiya Hartman stellen dabei vielversprechende Begleitlektüren dar. Sie können zur vertiefenden Bearbeitung der von Blackhaven aufgeworfenen Fragestellungen herangezogen werden, wenn das pädagogische Setting entsprechende Ressourcen aufweist.
Für die Auseinandersetzung mit dem Thema wird mit der Blackhaven Hall Historical Society ein Negativbeispiel der Gegenwart gezeigt. Daher sollte zusätzlich als Ergänzung auf aktuelle Dekolonialisierungsprozesse hingewiesen werden, beispielsweise durch Einbeziehung der Debatte um die Rückgabe der Benin-Bronzen, um den Diskurs dahinter differenziert abzubilden und ihn auch in Deutschland verorten zu können.

Neben der Sensibilisierung für Repräsentationsfragen in der Gesellschaft und Geschichtsschreibung werden die Lernenden zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Verantwortung angeregt. Denn dass Archivarbeit politische Praxis ist, zeigt sich in Blackhaven im besonderen Maße.
In ihrem Forschungsdrang entscheidet sich Kendra, zu Gunsten der Wahrheit ihren Job und damit ihre Zukunft zu gefährden. Auch hier bietet es sich an, Brücken zu den Lebensrealitäten der Lernenden zu schlagen: Mit der Protagonistin Kendra Turner bietet Blackhaven durch den integrierten Generationenkonflikt eine eindeutige Identifikationsfigur und ein Rollenvorbild. Ihr Handeln könnte beispielsweise mit bestehenden Klimaprotesten, als paradigmatisches Beispiel für politisches Engagement der europäischen Jugend, kontextualisiert und dadurch besser nachzuempfinden sein. Derartige Maßnahmen können sich bei der didaktischen Vermittlung des Spiels lohnen. Blackhaven bietet die Chance, Zugänge zu einem Themenkomplex zu finden, der die Gesellschaft und insbesondere die Museumslandschaft in den kommenden Generationen weiterhin beschäftigen wird.

Eigentlich können selbst Kinder als Kendra durch das Museum laufen, denn Blackhaven ist visuell ein langsames und seichtes Spielerlebnis ohne explizite Darstellung jugendgefährdender Inhalte. Dennoch kann es uns bis ins Mark erschüttern, unter Voraussetzung, dass wir den Absichten von Kendras Spurensuche und der Tragik ihres persönlichen Zwiespalts folgen können. Aufgrund der englischen Sprachausgabe in Text und Ton ist Blackhaven für eine Rezeption im deutschsprachigen Raum spielbar ab 16 Jahren.

Fazit:

Eine Betroffene moderiert uns unverblümt durch die Absurditäten der Geschichtsschreibung und die politische Macht der Museen. Die historische Expertise des Entwicklungsstudios hält, was sie verspricht: Ein authentisches Bild der Museums-, der Forschungsarbeit und der aktuellen Transformationsprozesse im Dekolonialisierungsdiskurs. Blackhaven belohnt alle, die der englischen Sprache mächtig und nicht lesefaul sind, mit Humor und pointierten Gesellschaftsanalysen.
Navid Nail
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Bildnachweise

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