Spielbeurteilung

11-11 Memories Retold

23.03.2023
"11-11 Memories Retold“ erzählt die fiktive Geschichte des kanadischen Kriegsfotografen Harry und des deutschen Ingenieurs Kurt an der Front im Ersten Weltkrieg.
11-11 Memories Retold beschäftigt sich mit den Ereignissen des Ersten Weltkriegs auf fiktive Weise. Es führt hierzu die beiden spielbaren Charaktere Kurt und Harry ein. Anhand ihrer Geschichten wird gezeigt, wie sich Menschen im Kriegsgeschehen gefühlt haben könnten und wie versucht wurde, die eigene Menschlichkeit zu bewahren. Die beiden recht unterschiedlichen Charaktere finden eine gemeinsame Ebene der Verständigung. Die Ereignisse spitzen sich auf den 11.11.1918 zu, dem titelgebenden Datum, an dem es zum Waffenstillstand kam.

Die Geschichte zweier Männer im Krieg
Harry ist ein junger Kanadier, der nach dem Tod seiner Eltern vom Fotografen Mr. Taylor aufgenommen wurde und in dessen Laden arbeitet. Er hat ein Talent für schöne Fotos und verbringt gerne Zeit mit Taylors Tochter Julia, in die er heimlich verliebt ist. Eines Tages kommt ein Major namens Barrett in ihr Geschäft, da er auf der Suche nach einem neuen Kriegsfotografen ist. Harry bemerkt, wie angetan Julia von der Uniform des Majors ist und beschließt, sich für den Auftrag zu melden. Er nimmt zusammen mit Barrett auf britischer Seite am Ersten Weltkrieg teil, ahnt aber noch nicht, welche schrecklichen Szenen sich ihm im späteren Verlauf zeigen werden.

Harry wird zum Kriegsfotografen und muss mit an die Front.

Kurt arbeitet in einer deutschen Zeppelinfabrik und leistet als Ingenieur seinen Beitrag zum Krieg. Durch ein Radio erfahren er und seine Kollegen davon, dass die Einheit IR125, in der sich auch sein Sohn Max befindet, als verschollen gilt. Kurt beschließt, sich an die Front versetzen zu lassen, um Max ausfindig zu machen. Während seiner Suche hält er ständigen Briefkontakt mit seiner Frau und erfährt so auch, dass ihre gemeinsame Tochter Lucie erkrankt ist. Kurt hält nicht viel vom Kriegsgeschehen und der Feindschaft beider Seiten. Für ihn zählt nur, seinen Sohn zu finden.

Kurt arbeitet anfangs in einer Zeppelinfabrik, bevor er sich an die Kriegsfront versetzen lässt.

Spielaufbau und zentrale Mechaniken
Die Geschichte von 11-11 Memories Retold gliedert sich in drei Teile, in denen es je fünf Kapitel zu erleben gibt. Die Zeitspanne der Handlung erstreckt sich vom 11. November 1916 bis zum Kriegsende zwei Jahre später. Zwischen den einzelnen Leveln können die Spielerinnen und Spieler wählen, wessen Perspektive sie zuerst sehen wollen: Harrys oder Kurts. Dabei wird die jeweils nicht gewählte Passage danach gespielt. Somit kann keine Perspektive wirklich verpasst werden. Ab einem späteren Zeitpunkt im Spiel kommen zudem eine Taube und eine Katze als spielbare Figuren hinzu. Die Umgebung spiegelt überwiegend das Kriegsgeschehen in französischen, deutschen und belgischen Gebieten wieder.

Die beiden Protagonisten können mit nicht-spielbaren Charakteren sprechen, Sammelobjekte aufheben und weitere Handlungen ausführen, die die Geschichte vorantreiben, wie das Betätigen von Hebeln, um einen Aufzug zu bewegen. Sammelgegenstände, die aussehen wie schwebende, weiße Papiere, sind hingegen nicht nötig, um in der Story weiterzukommen. Sie können im Menü abgerufen werden, um den historischen Kontext des Geschehens nachlesen zu können. So werden beispielsweise Archivfotos vom Ersten Weltkrieg eingebunden, die mit Erklärtexten versehen sind.

Audiovisuelle Besonderheiten
Eine Besonderheit des Videospiels ist die Vertonung. Harry wird von Elijah Wood auf Englisch und Kurt von Sebastian Koch auf Deutsch synchronisiert. Das Videospiel ist also gleichzeitig in Deutsch und Englisch vertont und damit zweisprachig. In einer Passage sind zudem französisch sprechende Spielfiguren zu vernehmen, mit denen interagiert werden kann. Für die Untertitel stehen neun verschiedenen Sprachen zur Verfügung. Nur das Vorlesen der Briefe findet stets auf Englisch statt. Die Briefe bieten einen Einblick in die Gedanken von Kurt und Harry, die einen regen Wechsel mit ihren daheimgebliebenen Angehörigen führen. Bei Kurt sind dies seine Frau und bei Harry seine Kindheitsfreundin und Angebetete Julia.

Hervorzuheben ist der Grafikstil. Dieser orientiert sich am Impressionismus und Künstlern wie Claude Monet. Dadurch ist das Geschehen im Spiel erkennbar, ohne jedoch zu detailliert kriegerische Handlungen darzustellen.

Kurt zieht eine Leiche durch ein Mohnfeld.

Das Aufeinandertreffen der beiden Männer
Am Ende des ersten Teils begegnen sich Kurt und Harry, als ihre Einheiten im französischen Vimy aufeinandertreffen. Kurt befürchtet zunächst, dass Harry im feindlich gesinnt ist, und zielt mit einer Waffe auf ihn. Harry hat Angst vor dem Deutschen und will sich ergeben. Es kommt zu einem Erdrutsch und Harry rettet Kurt das Leben, indem er ihn zur Seite stößt.

Die beiden Männer stecken nun in den unterirdischen Tunneln fest und müssen zusammenarbeiten, um zu überleben. Ab Teil II kommen die Katze und die Taube als spielbare Charaktere hinzu, die ebenfalls im Tunnelsystem gefangen sind. Jeder der vier Charaktere hat eigene Fähigkeiten. So ist Kurt für technische Reparaturen zuständig und Harry schießt Fotos, die die Meinung der Leute in seiner Heimat beeinflussen können. Die Rollen der Tiere sind weitestgehend nicht ausschlaggebend für das Kriegsgeschehen. Ihre Funktion besteht vielmehr darin, die Spielerzählung optisch ansprechender zu gestalten, indem beispielsweise ein Aussichtspunkt erklettert oder das gesamte Kriegsfeld überflogen wird.

Nachdem sich Harry und Kurt befreien konnten, kehren sie zurück zu ihren Einheiten. Die Katze begleitet von nun an Kurt und die Taube Harry. Am Ende von Teil II treffen die beiden im belgischen Passchendaele erneut aufeinander. Auch im dritten Teil sind die beiden erst einmal wieder getrennt, sehen sich aber in Kurts Heimat in Baden-Württemberg erneut, bevor es zum Finale kommt. Im Fokus der Geschichte und der Erzählweise steht die Menschlichkeit von Kurt und Harry, die sie während des Kriegs zu bewahren versuchen. Die zentralen Motivationen sind Freundschaft und Liebe. Es geht um die Freundschaft, die zwischen den beiden Männern entsteht, und die Liebe zwischen Vater und Sohn sowie Mann und Frau.

Egal auf welcher Seite der Front sich Spielerinnen und Spieler befinden, alle Beteiligten haben dieselben Ängste und Sorgen. Viele betrachten den Krieg als sinnlos. Der Unterschied, der die beiden Protagonisten trennt, ist die Sprache. Trotz der sprachlichen Barrieren schaffen es Kurt und Harry jedoch, sich wortlos zu verstehen.

Im Spiel können Sammelgegenstände in Form von Blättern gefunden werden, die historische Dokument beinhalten.

Platzhalter
Dieses Spiel wurde getestet von:
Ann-Kathrin Günther (Bachelor Germanistik)

Pädagogische Beurteilung:

In den einzelnen Kapiteln können an verschiedenen Orten leuchtende Blätter gefunden werden, die Bilder, Briefe oder ähnliche Zeitdokumente zeigen, denen aufklärende Texte beigefügt wurden. Archivaufnahmen geben Aufschluss darüber, wie es den Menschen im Ersten Weltkrieg ergangen ist und wie der Krieg verlaufen ist.

Ein Beispiel dafür, wie die Realität des Krieges durch solche Notizen aufgenommen wird, ist die Postkarte mit der Aufschrift „This picture shows the happiness your pennies will give“. Sie ist ein Dokument des sogenannten Over-Seas Club, wie der Erklärtext daneben verrät. In dem Text selbst wird von den Entwicklern darauf verwiesen, dass an der Front Soldaten aus den verschiedenen Kolonien der Alliierten zusammentrafen. Die Armee versuchte, den unterschiedlichen kulturellen Ansprüchen ihrer Männer gerecht zu werden. Der Text zeigt in Verbindung mit dem Bild auf, wie kulturell vielfältig die Soldaten waren, die gemeinsam für die britische Armee kämpften. Das liefert Schülern und Schülerinnen einen Einblick in die Realität des Kriegs.

Altersempfehlung
11-11 Memories Retold ist ab zwölf Jahren geeignet. Gewaltsame Darstellungen halten sich in Grenzen und sind aufgrund des grafischen Stils nicht detailliert erkennbar. Tötungen werden nicht gezeigt, stattdessen einige Leichen, deren Körper äußerlich jedoch unversehrt erscheinen. Der Fokus des Spiels liegt auf dem Erkunden der Gegend, Gesprächen mit nicht-spielbaren Figuren und dem Auffinden von Sammelgegenständen. Gewalt steht nicht im Zentrum.

Einsatz im Unterricht
Der Titel sollte erst gespielt werden, wenn in der Schule Grundwissen zum Ersten Weltkrieg aufgebaut wurde. So kann der Kontext von Kurts und Harrys Weg nachvollzogen werden, der die beiden von 1916 bis zum Kriegsende 1918 führt. Es braucht unter anderem zusätzliches Verständnis darüber, wer die Alliierten waren, warum der Erste Weltkrieg begonnen hat und wie er beendet wurde. Das Videospiel allein schafft es nicht, grundlegendes Geschichtswissen zu vermitteln.

11-11 Memories Retold dreht sich um die fiktiven Charaktere Kurt und Harry und ihre Erlebnisse im Krieg, die jedoch so nie stattgefunden haben. Das Spiel erzählt keine Tatsachenberichte, sondern bietet Anhaltspunkte, die jedoch aktiv weiterverfolgt werden müssen, um den Inhalt der Dokumente zu verstehen und einzuordnen. Deshalb brauchen Schüler und Schülerinnen nicht nur Grundwissen zum Ersten Weltkrieg, das sie begreifen lässt was die historischen Fakten sind. Sie benötigen ebenso Gelegenheiten zur Reflexion und Raum, um Nachfragen zum Geschehen und den optionalen Dokumenten zu stellen.

Lehrkräfte müssen klarstellen, dass dieses Videospiel ein fiktives Werk ist und die gezeigten Sichtweisen nicht denen von realen Menschen entsprechen müssen. Das Spiel baut durch die Charaktere eine dramatische Spannung auf, die mehr der Unterhaltung als der historisch korrekten Darstellung dient. Der Titel ist an vielen Stellen mitreißend und verleitet dazu, in die Welt der beiden Männer einzutauchen. Der Grundgedanke, dass zwischen dem Kanadier und Deutschen trotz verfeindeter Lager eine Freundschaft entsteht, kann von Lehrkräften positiv hervorgehoben werden. Es muss aber betont werden, dass das Verhalten der beiden Protagonisten nicht typisch für die Zeit ist.

Da das bloße Spielen nicht ausreicht und der Titel mit rund sieben Stunden Spielzeit den Rahmen des Geschichtsunterrichts sprengen würde, sollten beim Einsatz im Unterricht einzelne Szenen und Sekundärliteratur durch die Lehrkraft vorbereitet werden. Welche das wären, obliegt immer der Entscheidungsgewalt der Lehrenden, aber ein Ansatzpunkt, auch für Zuhause oder bei der Jugendarbeit, wäre es, von den persönlichen Geschichten auszugehen, die die Menschen im Krieg erlebt haben und die durch Briefe dokumentierte sind. Diese Perspektive war offenbar auch bei der Entwicklung des Spiels wichtig.

Das daran beteiligte Studio Aardman Animations veröffentlichte 2014 den Kurzfilm „Flight of the Stories“ für das Imperial War Museum in London. Darin geht es um die Menschen, die nie aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrten, doch in Zeitdokumenten von ihrer Geschichte berichten konnten. Auch Kurt und Harry schreiben Briefe in die Heimat. Das Ende des Videospiels zeigt, wie unterschiedlich diese Korrespondenzen ausgehen können. Im Abspann des Spiels wird zudem an Personen erinnert, die während des Ersten Weltkriegs lebten und im Krieg starben. Diese Verweise können als Ausgangspunkt dienen, um sich in einer Unterrichtsstunde mit den Schicksalen im Ersten Weltkrieg auseinanderzusetzen.

Fazit:

11-11 Memories Retold erzählt die fiktive Geschichte von Harry und Kurt in einem realen historischen Setting. Viele Soldaten schrieben Briefe an ihre Liebsten und hatten dabei ähnliche Gedanken wie die beiden Charaktere. Auch wenn das Spiel an manchen Stellen aus dramaturgischen Gründen eine allzu fiktive Richtung einschlägt, kann es die Schrecken des Ersten Weltkriegs und die Hoffnungen der beteiligten Menschen einfangen und ein Gefühl davon vermitteln, wie der Krieg aus verschiedenen Perspektiven gesehen wurde. Die einfache Spielmechanik der zu steuernden Protagonisten erlaubt es, in die Erlebnisse und Gedanken von ihnen einzutauchen und Spielende bis zum Schluss zu fesseln.
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Dieses Spiel wurde beurteilt von:
Ann-Kathrin Günther (Bachelor Germanistik)

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Bildnachweise

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