Spielbeurteilung
Attentat 1942
12.08.2019
Prag 1942. Hitlers Statthalter wird von Untergrundkämpfern der tschechischen Exilregierung getötet. Wir sind dem persönlichem Schicksal der Menschen, die zur Strafe von der Gestapo deportiert wurden, auf der Spur.- Genre:
- Herausgeber:Karls-Universität Prag, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik
- Plattform:PC, Mac
- Erscheinungsdatum:31.10.2017
- USK:
- spielbar:
Die Geschichte von Jindrich Jelinek
Am 27. Mai 1942 verübten tschechoslowakische Fallschirmjäger erfolgreich ein Attentat auf den Nazi-Kriegsverbrecher Reinhard Heydrich. Als Spielerinnen und Spieler beschäftigen wir uns mit dem Schicksal unseres Großvaters Jindrich Jelinek, der damals mit seiner Frau Ludmilla in Prag lebte und im Anschluss an das Attentat von der Gestapo deportiert wurde. Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, warum unser Großvater deportiert wurde und was er mit der Ermordung von Heydrich zu tun hatte.
Wir sprechen mit verschiedenen Personen, die damals Kontakt mit Jindrich hatten und jeweils eine andere Perspektive auf die Geschehnisse kurz vor seiner Verhaftung haben. Wir erfahren mehr über die Aktivitäten des Großvaters im Widerstand gegen die Nationalsozialisten, als über das Attentat an sich, welches innerhalb der Handlung eher eine untergeordnete Rolle hat. Die befragten Personen geben bisweilen nur auf neue Informationen hin weitere Versatzstücke ihrer persönlichen Geschichte preis. So entfaltet sich die Erzählung erst nach und nach in ihrem Gesamtbild. Jindrichs Perspektive erschließt sich zusätzlich über Tagebücher und Aufzeichnungen.
Verschiedene Quellen können angeklickt werden. Sie enthalten Informationen in Form einer Audiospur, durch detaillierte Bilder oder Texte.
Die Aufgabe der Spielerinnen und Spieler ist es, die einzelnen Informationen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen und herauszufinden, welche Informationen verlässlich sind und welche beispielsweise auf Missverständnissen beruhen. Die meisten Personen haben sich gegenseitig für lange Zeit nicht gesehen. Daher stellen sie selbst zum großen Teil Vermutungen über die Beweggründe der anderen Beteiligten an.
Simulation von Augenzeugenberichten
Das Spiel richtet sich auch an Jugendliche und thematisiert eine Zeit, die im Geschichtsunterricht ab der neunten Klasse behandelt wird. Die Entwickler/innen betonen in einem vorgeschalteten Disclaimer, dass das Spiel zwar auf Recherche von historischen Ereignissen und echten Schicksalen beruht, die Geschichten und Charaktere jedoch rein fiktiv sind.
Bei Attentat 1942 handelt es sich technisch betrachtet um eine Simulation von Augenzeugenberichten. Es werden keine echten Überlebenden und Augenzeuginnen und -zeugen befragt, auch wenn das Spiel mit diesen Eigenschaften beworben wird.
Dialoge, Tagebücher und Minispiele
Die Spielzeit dauert nur etwa zwei Stunden und ist geprägt durch Dialoge mit anderen Personen. Schlüsselinformationen über die Geschichte unseres Großvaters erhalten wir in Gesprächen. In Tagebüchern finden wir Informationen, die wir nutzen können, um den Verlauf eines Gesprächs zu beeinflussen. Manche Gesprächsoptionen führen dazu, dass der dargestellte Zeitzeuge die Unterhaltung abbricht. In Minispielen können wir Münzen verdienen, mit denen wir Dialoge wiederholen können.
Spielende können mit Zeitzeugen in einen Dialog treten. Dabei stehen verschiedene Antwortmöglichkeiten zur Auswahl.
Mit den Minispielen wird der Versuch unternommen, spielerische Aspekte etwas mehr in den Vordergrund zu stellen. In einem dieser Minispiele müssen wir durch Anklicken der jeweiligen Möbel und Gegenstände im Zimmer herausfinden, an welcher Stelle Flugblätter versteckt sein könnten. Ist der erste Versuch falsch, ist das Spiel ohne Münzgewinn beendet und das Rätsel wird aufgelöst. In einem anderen Spiel muss man ein verwüstetes Zimmer wiederherstellen, um Münzen zu verdienen, wobei man alle veränderten Gegenstände finden und anklicken muss.
Minispiele beschäftigen sich mit den Erzählungen, die im Dialog aufkommen. Meistens beschränkt sich die Tätigkeit der Spielenden auf einfaches Klicken und Zuordnen von Gegenständen.
Die Spiele sind jeweils auf die Situation zugeschnitten und gestalten sich daher jedes Mal ein wenig anders. Hauptsächlich beschränken sich unsere Handlungen jedoch auf einfaches Sortieren, Suchen oder Markieren.
Graphic Novels
Das Spiel zeichnet sich durch aufwendig animierte Graphic Novels aus. Spielende können sich die Szenen durch Klicken im eigenen Tempo erschließen. Während sonst im Spiel die Texte einfach nur durchlaufen, ohne dass sich die Geschwindigkeit an unser Lesetempo anpassen würde, wird hier die Interaktivität des Mediums Computerspiel genutzt.
Teile der Geschichte werden durch animierte Graphic Novels präsentiert.
Gegenüber gedruckten Graphic Novels haben die digitalen Versionen den Vorteil, durch eine Tonspur begleitet zu werden. Durch Geräusche, Stimmen und Musik wirken die Szenen stärker, transportieren Emotionen und Geschehnisse besser und machen sie nachvollziehbarer.
Der Questlog als Enzyklopädie
Ein zentraler Bestandteil ist der sogenannte „Questlog“ oder das Notizbuch. Erfahren wir in Gesprächen oder anderen Quellen Einzelheiten über Personen, Ereignisse und Schauplätze, werden diese in der Enzyklopädie abgelegt.
Pädagogische Beurteilung:
Das interaktive historische Spielerlebnis bietet gute Ansätze, um bei Jugendlichen einen Lebensweltbezug herzustellen. Die verschiedenen Medienformate, die das Spiel einbringt, bieten Ansätze für eine pädagogische Nutzung. Trotz der ernsten Themen gibt es keine Passagen, die zu viel Gewalt oder zu komplexe Strukturen für die Spielenden ab 12 Jahren beinhaltet, für die das Spiel empfohlen ist.Attentat 1942 als Videospiel
Viele Entscheidungen im Spieldesign wirken sich ungünstig auf die Spielqualität und damit auf das Spielerlebnis von Schülerinnen und Schülern aus. So fügen sich die Minispiele und ihre Spielmechanik leider nicht gut in die Geschichte ein.
Attentat 1942 ist eher ein Zusammenschluss aus verschiedenen dokumentarischen, filmischen und animierten Einzelstücken, die zu einer informativen Collage zusammengebaut wurden. Ein echtes Spielerlebnis ergibt sich daraus leider nicht. Informationen werden über das Lesen, Hören und Sehen von dokumentarischem Material aufgenommen, während nur wenige spielerische Interaktionsmöglichkeiten existieren. Damit fällt Attentat 1942 auch im Vergleich zu anderen Spielen mit historischem Kontext wie Valiant Hearts oder Europa Universalis ab, die ebenfalls Ansatzpunkte für historisches Lernen bieten.
Das Spiel stellt die Ernsthaftigkeit in den Vordergrund und ordnet den Spielspaß unter. Spielspaß und spielerische Motivation zur Beschäftigung mit den Inhalten ergibt sich nur bedingt.
Potenziale für den Geschichts- und Ethikunterricht
Neben der Beschäftigung mit der Stadt Prag während des Zweiten Weltkrieges gibt es im Spiel einige Themen, die für den Geschichtsunterricht aufgegriffen werden können.
- Das Spiel regt durch die verschiedenen Quellen und Darstellungen dazu an, den historischen Quellenbegriff zu thematisieren und über die Bedeutung von Quellen im Geschichtsunterricht zu reden. Im Unterricht kann das Spiel dazu anregen, Medien reflexiv und kritisch zu betrachten. Beispielsweise könnte die Darstellung der angeblichen Augenzeuginnen und -zeugen angesprochen werden, zudem die Mischung aus Fiktion und Realität.
Vorsicht: Informationen über reale und fiktive Personen werden insbesondere im Questlog vermischt. Durch starke audiovisuelle und erzählerische Mittel und die Einbettung in einen historischen Hintergrund, suggeriert das Spiel, Geschichte historisch korrekt darzustellen. Diese Ungereimtheiten sollten im Unterricht thematisiert werden. - Durch das Spiel bietet sich die Chance, über die Wahrnehmung der Deutschen durch andere Nationen im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Themen wie die Identitätsfrage und die Beschäftigung mit deutscher Vergangenheit können anschließende oder begleitende Themen für den Unterricht sein.
- Attentat 1942 transportiert einige grundsätzliche Vorstellungen und Werte, die im Unterricht aufgegriffen und zur Diskussion gestellt werden können. Da der Großvater der Hauptperson im Spiel einer Widerstandsgruppe angehört, können Beweggründe für den Beitritt in den Widerstand sowie die Legitimität von Gewalt in Ausnahmesituationen besprochen werden. Die Bereitschaft der Bevölkerung, sich für ihr eigenes Überleben und das ihrer Mitmenschen in Gefahr zu begeben, kann eine Diskussion im Unterricht anregen.
Für sich allein stehend dürfte das Spiel bei Jugendlichen einige Fragen aufwerfen. Diese Fragen können pädagogischer Begleitung bearbeitet werden, sodass Attentat 1942 sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden kann.
Was Videospiele hingegen besonders auszeichnet, ist seine Interaktivität. Da Attentat 1942 von der USK eine Freigabe ab 12 Jahren erhalten hat, wäre es im Unterricht bereits in der Mittelstufe möglich, Spielinhalte zu nutzen. Eventuell können Zeitfenster geschaffen werden, in denen das Spiel gemeinsam gespielt wird oder Passagen des Spiels auf Tablets oder Laptops in einer Unterrichtsstunde gezeigt werden. Auch wenn das Spiel im Vergleich zu anderen Videospielen weniger Gameplay bietet, sondern vielmehr kurze Interaktionen zwischen den Sequenzen, in denen zugehört und zugeschaut wird, ist der Zugang im Grunde interaktiv. Damit bietet es Jugendlichen einen originellen Zugang zu Informationen.
Hakenkreuze in der Schule
Propagandamittel, "die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen" dürfen nach Paragraf 86, Absatz 1, des Strafgesetzbuchs in Deutschland nicht gezeigt werden. Ausnahme: Verfassungsfeindliche Symbole dürfen gezeigt werden, wenn das Symbol in Kunst oder Wissenschaft gezeigt wird und beispielweise der Forschung, Lehre oder Berichterstattung über das Zeitgeschehen dient. Diese Sozialadäquanzklausel gilt seit August 2018 auch für Computerspiele. Die USK prüft im Einzelfall im Rahmen der Vergabe eines Alterskennzeichens. Damit hängt auch die Anerkennung von digitalen Spielen als Kunstform zusammen.
Attentat 1942 ist das erste Spiel mit Nazi-Symbolik, das in Deutschland seit der Bewertungsänderung mit USK-Freigabe veröffentlicht wurde. Medial betrachtet bildet Attentat 1942 hier also eigentlich einen wichtigen Bestandteil einer sehr jungen Entwicklung. Die Veröffentlichung in Deutschland ist ein wichtiger Schritt, wenn es darum geht, Videospiele als Kunstform zu akzeptieren und Themen wie die NS-Zeit unzensiert aufzuarbeiten. Dennoch bleibt zu erwarten, dass in Schulen und in der Elternschaft Probleme auftreten können, da das Spiel somit Teil einer Kontroverse ist.
Fazit:
Das Spiel Attentat 1942 ist eine intermediale Erfahrung, die Geschehnisse in Prag um das Jahr 1942 thematisiert und Jugendlichen in einem lebensnahen Szenario nahebringen kann, wie der Austausch mit Zeitzeugen abläuft und wieso Geschichte in der Gegenwart immer noch von Bedeutung ist. Aufgrund des dokumentarischen Charakters ist eine Verwendung in der Schule denkbar.Im schulischen Kontext könnte es unter pädagogischer Begleitung und didaktischer Aufbereitung ab 12 Jahren im Unterricht eingesetzt werden.
Siehe auch
Nico Nolden (2016):
Geschichtserfahrungen und Erinnerungskultur bei digitalen Spielen
Wie inszenieren digitale Spiele Geschichte? Historiker Nico Nolden legt dar, wie sich geschichtliche Vorstellungen auch in fiktiven Spielen wiederspiegeln und deckt auf, was abseits historischer Fakten in digitalen Spielen verborgen liegt.
Spielbeurteilung
Through the Darkest of Times
Dieses ausgezeichnete Strategiespiel macht den Widerstand gegen den Nationalsozialismus spielerisch erlebbar. Mit dem passenden Konzept ist sogar ein Einsatz im Schulunterricht möglich.
Patrick Lenz (2015):
Erster Weltkrieg virtuell – historisches Lernen im Computerspiel?
Wie können Computerspiele mit historischen Inhalten im pädagogischen Kontext nutzbar gemacht werden? Patrick Lenz nähert sich dem Thema und stellt unterrichtsdidaktische Überlegungen an zum Einsatz von Computerspielen im Geschichtsunterricht am Beispiel von Valiant Hearts: The Great War.
Bildnachweise
[1]Attentat 1942 / Karls-Universität Prag, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik / Screenshot by spielbar.de[2]Attentat 1942 / Karls-Universität Prag, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik / Screenshot by spielbar.de[3]Attentat 1942 / Karls-Universität Prag, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik / Screenshot by spielbar.de[4]Attentat 1942 / Karls-Universität Prag, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik / Screenshot by spielbar.de[5]Attentat 1942 / Karls-Universität Prag, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik / Screenshot by spielbar.de[6]Through the Darkest of Times / HandyGames / Screenshot by spielbar.de