Spielbeurteilung
Orwell: Keeping an Eye on You
13.09.2022
Big Brother is watching you: In Anlehnung an George Orwells Dystopie "1984" lässt uns dieses Spiel potenziell gefährliche Mitmenschen überwachen. Eine erschreckende Simulation, die für Diskussionsstoff sorgen kann.- Genre:
- Herausgeber:Osmotic Studios
- Plattform:
- Erscheinungsdatum:20. Oktober 2016
- USK:nicht geprüft
- spielbar:
Das Spiel beginnt mit dem Blick durch eine große Menge an Kameras auf den Freedom Plaza der Hauptstadt Bonton. Als eine Explosion den Raum erschüttert, werden die dort anwesenden Personen schon durch das Orwell-Programm gescannt. Die Filmsequenz endet und wir sitzen vor dem Überwachungstool Orwell und bekommen unsere Instruktionen von Symes, einem Mitarbeiter des Sicherheitsministeriums. Er erklärt, dass aus dem ursprünglich geplanten Testlauf nun ein Einsatz unter Realbedingungen wird und wir helfen müssen, die Attentäter zu stellen, um so weitere Anschläge zu verhindern.
So beginnt die Jagd nach Informationen, sogenannten Datachunks ("Datenbrocken“), die wir an jedem der fünf Spieltage zu "verdächtigen“ Personen sammeln. Verdächtig sind dabei nach dem neuen Sicherheitsgesetz alle Personen, die schon einmal im Konflikt mit dem Gesetz standen. Auch die herrschende Partei kann auf diese Informationen zuzugreifen; diese und weitere Hintergrundinformationen über die Welt erhalten wir durch Orwell selbst, da wir durch das Programm auch Zugriff auf das öffentliche Internet und damit auf die Datenbank der größten Zeitung der Nation oder die Website der Regierung haben. Das heißt aber auch, dass die Geschichte nicht auf dem Silbertablett präsentiert wird, sondern sie sich erst durch die Recherchearbeit erschließt. Unsere Hauptverdächtige ist "Cassandra Watergate“ – eine Künstlerin, die vom System beobachtet wird, da sie wegen eines Angriffs auf einen Polizisten vorbestraft ist. Wir haben Zugriff auf ihre Polizeiakte und ziehen wichtige Informationen per "Drag & Drop“ in ihre Akte bei Orwell. Die für das System wichtigen Informationen sind dabei blau hinterlegt und die Aufgabe ist es, zu entscheiden, ob diese Informationen wichtig zur Lösung des Falls sind und ob sie in Konflikt mit anderen schon hochgeladenen Informationen stehen. Wir entscheiden also über die Relevanz der gefundenen Informationen und können diese durch weitere Recherche versuchen zu überprüfen.
Aus den Informationen der verschiedenen Datenbanken erstellen wir in "Orwell" Profile der Verdächtigen.
Einmal hochgeladene Datachunks sind allerdings nicht mehr zu löschen, und Symes leitet weitere exekutive Maßnahmen ein, je nachdem, was sie ihm für Informationen zur Verfügung stellen. Die einzelnen Entscheidungen haben auf diese Weise Einfluss auf die weitere Abfolge der Geschichte.
Vorteilhaft ist dabei, dass es möglich ist, jeden der fünf Spieltage erneut zu spielen, um zu versuchen, alle möglichen Handlungsstränge auszuprobieren, was bei etwa einer Stunde pro Spieltag auch problemlos möglich ist und einen hohen Wiederspielwert bietet.
Die Kommentare unseres Kollegen Symes dienen oftmals als Reflexionsfolie, da er in Teilen selbst nicht genau weiß, ob der Einsatz des Programms gerechtfertigt ist.
Durch die Informationen über Frau Watergate gelangen wir zum Blog "The Thought“, dessen Mitglieder zum Zentrum ihrer Ermittlungen werden. Dabei tauchen wir immer tiefer in deren Privatsphäre ein, hören Telefonate mit, klinken uns in Dating-Plattformen und Social-Media-Kanäle ein, lesen die Krankenakten und versuchen so, Profile zu jeder Person anzulegen und diese in Orwell als Beziehungsnetzwerk darzustellen.
Nach und nach ergibt sich ein Netz aus verdächtigen Personen. Aber haben sie sich wirklich etwas zu Schulden kommen lassen?
Die Spieloberfläche besteht dabei aus dem "Reader“, dem "Listener“ und dem "Insider“. Der Reader funktioniert ähnlich wie das heutige Internet. Wir klicken sich durch verschiedene Seiten wie der des "National Beholder“, der größten Zeitung der Nation, der "Stelligan Universität“ oder "Timelines“, der verbreitetsten Social-Media-Plattform. Mit dem Listener können wir E-Mails, Chatverläufe oder mitgeschnittene Telefonanrufe der Verdächtigen lesen. Der Insider gewährt uns Zugriff auf die Computer und Smartphones.
Emails, Telefonate und Chats geben uns intime Details über die Verdächtigen preis.
Orwell kreiert eine aufgeladene und zugleich gruselige Atmosphäre, da das Sammeln von Daten einen immensen Einfluss auf das Leben der Betroffenen hat. So ist es sogar möglich, dass ein Verdächtiger von den Einsatzkräften erschossen wird, wenn wir dem System die Information weitergeben, dass er bewaffnet ist. Die Tatsache, dass man sich nie sicher sein kann, ob die Observierten nun Anschläge vorbereiten oder nur friedlich demonstrieren, treibt nicht nur die Spannung in die Höhe, sondern führt einem die eigene Verantwortung für das Leben der Verdächtigen vor Augen. Die Verdächten beginnen sogar selbst gegen Orwell zu ermitteln, sodass eine Art "Katz und Maus Spiel“ entsteht und somit die Anspannung steigt.
Am fünften Tag endet das Spiel. Das System wird zum zweiten Mal gehackt und wir werden zu einer Entscheidung aufgefordert:
- Wir erfahren, dass auch wir observiert wurden. Diese Information können wir öffentlich machen, um zu zeigen, dass jeder Mensch im System überwacht wird und um zu versuchen, es von innen zu zerstören.
- Wir machen weiter wie zuvor und komplementieren die Profile der Verdächtigen und sorgen für deren Verhaftung.
- Ein unbekannter Hacker spielt uns Informationen über die Sicherheitschefin der Nation, Catherine Delacroix, zu, und wir haben die Möglichkeit über diese ein Profil in Orwell anzulegen und eine Ermittlung gegen sie loszutreten.
Es folgt ein Abspann, in dem wir mit unserer Entscheidung konfrontiert werden, indem wir von den Konsequenzen im National Beholder lesen.
Dieses Spiel wurde getestet von:
Pädagogische Beurteilung:
Das Spiel "Orwell: Keeping an Eye on You" eignet sich gut für die Anwendung im Schulunterricht, wobei es vor allem Potentiale für die Fächer Geschichte, Politik und Gesellschaft, Ethik oder Deutsch bietet.Das Spiel simuliert erschreckend präzise, wie in einem demokratischen Staat unter Zuhilfenahme von Sicherheits- und Notstandsgesetzen Menschenrechte ausgehebelt werden können, um der regierenden Partei zu mehr Macht zu verhelfen – alles unter dem Deckmantel des Schutzes der Bevölkerung. Die Lernenden müssen die wichtigen Hintergrundinformationen zu den Beweggründen der Regierung selbst recherchieren und bekommen es nicht einfach beispielweise als Lernvideo präsentiert, was nicht nur die Motivation steigert, sondern auch wichtige Kernkompetenzen der Recherche und des Auswertens und Reflektieren von komplexeren Texten fördert. Jede Weitergabe von Informationen an Orwell stellt die Lernenden vor ein potenziell ethisches Dilemma und hat durch die Informationsweitergabe direkten Einfluss auf das Leben der Figuren. Zu Anfang wird das noch leichter fallen, da das Voranschreiten in der Geschichte im Vordergrund steht und eine emotionale Involviertheit in Story und Figuren seine Zeit benötigt. Aber spätestens nach Ende des dritten Spieltags, als eine Figur aufgrund der gelieferten Informationen in eine Schießerei mit den Sicherheitskräften gerät, wird einem eine mögliche Reflexion des eigenen Tuns quasi vom Spiel aufgezwungen. So werden die moralische Urteilsbildung und die empathischen Fähigkeiten auf die Probe gestellt und gefördert.
Weiterhin macht das Spiel abseits der geschichtlichen, politischen und ethischen Zusammenhänge auf das Sammeln und Nutzen von Daten aufmerksam. Spielende erfahren dabei hautnah, welche Rück-, aber auch Fehlschlüsse aus Datensätzen gezogen werden können und welche Macht mit der Sammlung von Daten verbunden ist. Vor allem das Beispiel der Einsicht in Gesundheitsdaten von zwei der Spielfiguren zeigt nicht nur wie hochfraglich es ist, solche hochpersönlichen Daten in Masse zu speichern und einlesbar zu machen, sondern auch, welche Möglichkeiten der Einflussnahme diese Daten bieten: Im Spiel erhält eine Figur durch eine Hüftoperation einerseits ein Alibi, durch eine psychosomatische Erkrankung andererseits ein Unberechenbarkeitsmotiv. Hier wäre es möglich, die aktuelle Situation in der Volksrepublik China oder die Datensammlung durch private Konzerne in Westeuropa zu thematisieren. Weiterhin wäre eine Reflexion der Debatte um die Gesundheitsdatensammlung während der Corona-Pandemie denkbar.
Die Voraussetzungen für all diese möglichen Bildungsprozesse und Kompetenzerweiterungen sind allerdings, dass die Spielenden über eine hohe Textkompetenz verfügen, da die Texte in Orwell nicht nur sehr komplexe Zusammenhänge darstellen, sondern auch Vorwissen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie voraussetzen. Historisch knüpft es an die Überwachungsmechanismen der Gestapo während des nationalsozialistischen Regimes und der Stasi in der Zeit der SED-Regierung an. Aus diesem Grund eignet es sich nur bedingt zum Einstieg in solche Thematiken, da sich die Schülerinnen und Schüler tiefergehend mit diesen Thematiken auseinandergesetzt haben müssen, um das volle Potential zu entfalten, das das Spielerlebnis von Orwell bietet. Das Wissen darüber erwerben Schülerinnen und Schüler häufig erst in der 9. und 10. Klasse. Aus diesem Grund empfehlen wir, dass die Spielenden mindestens 16 Jahre alt sein sollten.
Eine Implementierung in den Unterricht könnte wie folgt aussehen: Die Lehrkraft hat das Spiel im besten Fall selbst einmal vollständig gespielt, um die Stärken der jeweiligen fünf Spieltage zu erkennen und sie sinnvoll in die jeweiligen Lernziele der genannten Unterrichtsfächer einbauen zu können. Im Deutschunterricht ist das Spiel eine sinnvolle Ergänzung zur Klassenlektüre von 1984 von George Orwell. Das Spiel kann entweder parallel zur Lektüre oder am Ende als Vertiefung eingesetzt werden, indem mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet wird, wie die inhaltlichen Bausteine des Romans in das Spiel übernommen worden sind.
Im Geschichtsunterricht kann am Ende der Sektion über das geteilte Deutschland das Spiel als Stundeneinstieg und Erarbeitungsphase gleichzeitig verwendet werden. Die Schülerinnen und Schüler spielen in Stillarbeit die ersten 15 Minuten des ersten Tages. Im Anschluss ziehen sie in Partnerarbeit Parallelen zwischen der fiktiven Regierung im Spiel und der SED-Regierung, über die sie in den letzten Wochen Wissen erworben haben. Dieser Prozess kann durch ein Arbeitsblatt, in dem wichtige Aspekte wie Machtergreifung, Legitimierung der Überwachung und Kennzeichen des Überwachungsapparates dargestellt werden. Abschließend werden die Zusammenhänge im Klassenplenum besprochen und ergänzt.
Fazit:
Das Spiel "Orwell: Keeping an Eye on You" bietet für diverse hoch aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse eine Diskussionsgrundlage. Durch seine realistisch geschriebenen Texte sorgt es dafür, dass man sich schon bald wie in der Schaltzentrale der fiktiven Regierung fühlt. Es führt uns vor Augen, wie wichtig der Schutz des Grundgesetzes ist, und wie viel Macht sich bei datensammelnden Institutionen konzentriert.Dieses Spiel wurde beurteilt von:
Siehe auch
Spielbeurteilung
Beholder 3
Im Dienste des Inlandsgeheimdienstes der "Größten Union" überwachen die Spielenden ihre Mitmenschen in der Nachbarschaft sowie im Ministerium. Wie weit gehen sie, um sich im Ministerium hochzuarbeiten und wer bleibt dabei auf der Strecke?
Spielbeurteilung
1979 Revolution: Black Friday
Als Journalist erleben wir die iranische Revolution mit, die schließlich zum Sturz des verhassten Schahs führt. Ist der Wille nach einem demokratischen und freiheitlichen Iran damit schon erfüllt?
Bildnachweise
[1]Orwell: Keeping an Eye On You / Osmotic Studios / steampowered.com[2]Orwell: Keeping an Eye On You / Osmotic Studios / Screenshot by spielbar.de[3]Orwell: Keeping an Eye On You / Osmotic Studios / Screenshot by spielbar.de[4]Orwell: Keeping an Eye On You / Osmotic Studios / Screenshot by spielbar.de[5]Orwell: Keeping an Eye On You / Osmotic Studios / Screenshot by spielbar.de[6]Beholder 3 / Alawar Premium / Screenshot by spielbar.de[7]1979 Revolution: Black Friday / iNK-Stories, N-Fusion Interactive / steampowered.com