Wiebke Blank

Berufsvorbereitung in der Schule: Über ein Computerspiel wie Myst

12.05.2008
Die Autorin berichtet über den Einsatz des Adventure-Spiels „Myst" in einer Berufsvorbereitungsklasse. Selbst (oder gerade) die kniffligen, englischen Spielrätsel fesselten die beteiligten Schülerinnen und Schüler. Durch das Projekt wurden Qualitäten wie Teamarbeit und Lernbereitschaft gefördert.

 Autorin: Wiebke Blank
 Erschienen: 1997
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Diese Äußerung von A, einem Schüler meiner "Berufsvorbereitungsklasse" (BVK), brachte mich auf die Idee, ein Computerspiel gezielt im Unterricht einzusetzen.

Vor zwei Jahren wurde diese "BVK" für schulmüde, überalterte Schüler an unserer Hauptschule Ringelnatzstraße in Köln eingerichtet. Hier werden 16 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren aus den Klassen 6 bis 8 unterrichtet, die innerhalb der Regelklassen nicht mehr versetzt werden konnten. Die Gründe: Monatelanges Schwänzen oder "Null-Bock auf gar nichts".
Wir versuchen, diese jungen Menschen wieder physisch in die Schule zurückzuholen, bei ihnen eine positive Einstellung zum Lernen zu wecken, sie in ihrer Persönlichkeit so zu stabilisieren, dass sie sich nach dem Erreichen der Vollzeitschulpflicht und vielleicht sogar dem Erreichen des Hauptschulabschlusses nach Klasse 9 eine persönliche und berufliche Perspektive aufbauen können.

Während des ersten Jahres kristallisierten sich allmählich Hintergründe für die Lernunwilligkeit dieser Schüler heraus: "Lernen" hatte ihnen noch nie "Spaß" gemacht. Sie zeigten keinerlei Neugierde. Sie hatten in ihrer Schullaufbahn verlernt, Fragen zu stellen. Problemen wichen sie aus, indem sie "wegliefen" oder "alles hinschmissen". Hinzu kam ihr Misstrauen nicht nur der Erwachsenenwelt, sondern auch Mitschülern gegenüber. Sie lehnten Teamarbeit strikt ab. So suchte ich ständig nach Ideen, wie ich in der Schule Situationen schaffen könnte, in denen gerade diese Schüler ermutigt würden, ein komplexes Problem in kleine Einzelprobleme zu zerlegen, um dann durch geduldige schrittweise Lösungswege zu einem Erfolg zu kommen..

Ich griff also A"s Äußerung über sein Spielverhalten auf und entschied mich für das Spiel "Myst", das ich jedoch nur in der englischen Version besaß. Drei Schüler erklärten sich bereit, das Spiel gemeinsam über einen längeren Zeitraum zu spielen. Als Ergebnisprodukt erwartete ich von ihnen ein kleines "Buch" zum Spiel, eine Handreichung oder Anregung für die Klassenkameraden. Sie konnten frei wählen, ob sie einen Raum, eine Maschine oder den Zugang zu einer der Welten genau beschreiben oder ob sie Erfolgs- beziehungsweise Frusterlebnisse während des gemeinsamen Spiels erzählen wollten.

Die drei Spieler, B, C und D spielen sehr gerne Videospiele und halten sich für Experten auf diesem Gebiet. B hatte das Spiel im Jugendzentrum schon einmal gesehen, aber noch nicht gespielt. C übernahm die Führung. Zielstrebig legten die Schüler den ersten Hebel am Pier um und erwarteten eine Reaktion. Da nichts geschah, drangen sie weiter ins Innere der Insel ein. Sie lasen den herumliegenden Brief. Da er in Englisch verfasst war, baten sie mich, den Text mit ihnen gemeinsam zu übersetzen. Ganz plötzlich und unerwartet packte die Schüler ein Bedürfnis, den englischen Text laut zu lesen, zu knobeln, was unbekannte Wörter bedeuten könnten, und in gemeinsamer Anstrengung mit den anderen und mir einen Sinn zu erfassen. Noch hatten wir nichts schriftlich festgehalten. Doch als wir die Wichtigkeit des Briefes begriffen hatten, diktierten mir die Schüler auf Englisch den Brief vom Bildschirm herunter, damit sie ihn übersetzen und schneller weiterspielen konnten.

Danach begann eine mühsame Phase von erfolglosen Versuchen. Nur zufällig stießen die Schüler auf weitere Spielhinweise, nahmen sich aber nicht die Zeit, diese systematisch zu durchdenken oder sich Notizen zu machen - was meine Bedingung für das Spielen von "Myst" während des Unterrichts gewesen war. Inzwischen gab jeder unüberlegte Ratschläge. Ungeduldig wechselten sie sich mit der Mausbedienung ab, da sie meinten, der Nächste reagiere besser auf die Zurufe. Noch hatten sie nicht begriffen, dass sie sehr genau und bewusst "hinsehen" und Details kombinieren mussten. So bewegten sie sich im Fortgang des Spieles nun immerzu im Kreis. Fast wollten sie entmutigt aufgeben, spielten dann aber doch weiter, da sie von der Grafik und der Musik fasziniert waren.
Die drei verzweifelten immer mehr. Die Lust weiterzuspielen, nahm rapide ab und ich fürchtete, dass sie - wie in vergleichbaren Lernsituationen - zornig oder frustriert abbrechen würden, um wie schon so häufig als "Versager" einem Problem aus dem Weg zu gehen. An diesem Punkt präsentierte ich ihnen ein deutsches Buch zum Spiel. Sie begannen nun eifrig mit Hilfe des Buches, Lösungsstrategien zu entwickeln, und sie erzielten erste Erfolge. Da das Buch modulhaft zwischen mehreren "Welten" hin- und herspringt, mussten die Jungen, die sonst nicht zum Lesen zu motivieren waren, sehr genau und immer wieder an anderen Stellen lesen, bis sie einen Code gefunden hatten. Aber auch zu diesem Zeitpunkt hielten sie es nicht für nötig, irgendetwas aufzuschreiben. So endete die Stunde mit dem Wunsch der Gruppe, das Spiel weiterspielen zu dürfen und mit dem Versprechen, einen der gegangenen Wege zu dokumentieren.

Zur nächsten Stunde hatte ich selbst den Anfang unserer Geschichte geschrieben, um den drei Spielern den Wiedereinstieg zu erleichtern und sie an unser Vorhaben zu erinnern, ein "Buch" zum Spiel für andere zu schreiben. Nachdem sie meinen Entwurf gelesen hatten, tauchten sie wieder zuversichtlich in das Spiel ein - und jetzt erklärte sich B von sich aus bereit, Notizen festzuhalten (Effekt: Verschriftlichung von Gesehenem). Der Gruppe schloss sich ein vierter Spieler, A, an.
Aber auch in dieser 2. Spielphase probierten die Schüler gedankenlos Wege aus und versuchten durch Zufälle, zu Lösungen zu kommen. Wieder nahmen sie das Buch zu Hilfe, aber dieses Mal verwirrte es sie eher, als dass sie dadurch Lösungen näher gekommen wären. Am Ende der Spielphase hatten sie die "mechanische Welt" und die "Kanalwelt" gefunden. Jetzt hatte sich die Kleingruppe so aufeinander eingespielt, dass sie gemeinsam eine Strategie entwickelten und diskutierten, wie man Codes knacken könnte und welche Wege man nehmen sollte.
Ohne dass sie dazu gezwungen wurden, wiederholten sie gegangene Wege immer wieder, um noch genauer auf Einzelheiten achten zu können. Sie wollten jetzt nicht mehr aufgeben. Die Schüler arbeiteten intensiv und freiwillig an einem Problem und waren dabei der Meinung, es sei Spiel. Ich hatte eins meiner Unterrichtsziele erreicht: Jugendliche, die bisher Problemlösungen - aus welchen Gründen auch immer - aus dem Weg gegangen waren, hatten über "Spielen" für sich eine Freiwilligkeit zum Problemlösen entdeckt, die sie zum Weitermachen und zur Teamarbeit animierte und zum Erfolg führte.

In der dritten Spielphase hatte die Spielergruppe den Durchbruch. Sie begannen das Spiel noch einmal ganz von vorne, und jetzt gingen sie systematisch und in kleinen Schritten voran. Sie hielten es für besser, ohne Buch weiterzuarbeiten. D unternahm kaum noch Schritte, ohne sie vorher im Kopf durchzuspielen. So fanden sie schrittweise heraus, wie die Knöpfe der "Powerstation" programmiert waren, beobachteten und notierten, wann Kurzschluss entstand, wie und wo dieser zu beheben war. Als sie die Codierungsart durchschaut hatten, probierten sie nicht länger, sondern errechneten, welche Knöpfe eingeschaltet werden müssten.
Beobachtung: Die Schüler vertieften sich in ein Problem, vergaßen alles um sich herum und ließen sich darauf ein, nicht aufzugeben. Sie zeigten außerdem aber auch ein starkes Interesse, mir alles zu erklären, und meinten: "Wir haben alles mitgeschrieben, aber erstmal nur zeichnerisch."
Bisher hatte A sich in meinem Unterricht noch nie richtig auf die Aufarbeitung eines Sachverhalts eingelassen.

Sobald Schwierigkeiten auftauchten, Denkprozesse eine Rolle spielten, Lösungen konzipiert werden mussten, schaltete er ab, indem er entweder störte, Bilder auf Arbeitsblättern ausmalte oder sich ins Abschreiben flüchtete. Die heutige schrittweise Lösung eines Problems mit viel Zeitaufwand konnte A nur gemeinsam mit den anderen erfahren und ertragen. Jeder im Team hatte Ideen, griff aber auch die Ideen der Partner gerne auf. Alle vier spürten, wie sie sich gleichwertig ins Team einbringen konnten und dadurch sehr viel erreichten.

In dieser dritten Spielphase wandten die Schüler den Trick an, das Spiel in mehreren Spielzuständen abzuspeichern, um sich so sehr einfach "hypertext"-artig zwischen den Welten und ihren bisher gegangenen Wegen zu bewegen.

Allmählich entwickelten sie auch eine Bereitschaft, etwas schriftlich zu dokumentieren. Sie sprachen sich selbständig über Themengebiete ab und verteilten sie untereinander. D beschrieb einen Raum. Seine Erstfassung wollte er direkt von mir auf Fehler korrigiert haben. Da ich gerade mit einer anderen Gruppe arbeitete, animierte er diese Gruppe, ihre eigene Arbeit kurz zu unterbrechen und ihm bei der Überarbeitung seines Textes zu helfen, was sie durch Verständnisfragen auch taten. Sie scannten schließlich noch passende Bilder zu ihrem Text ein.
Das Projekt "Myst" hatte ihnen viel Spaß gemacht. Sie hatten ohne Druck von Lehrpersonen und ohne es zu merken, Probleme angepackt, sie in Einzelfragen zerlegt und diese schrittweise in Teamarbeit gelöst. Wir haben die Hoffnung, dass die Schüler sich zukünftig in entsprechenden Lernsituationen ähnlich verhalten werden und dass sich diese Einstellung allmählich festigt.
Beispieltext eines Schülers: Der Uhrenturm

Wir standen vor einem Problem. Vor uns war ein Uhrenturm. Wir wussten nicht, was wir machen sollten, dann schauten wir nach unten und sahen zwei Räder, die wir drehen konnten und einen roten Knopf. Als wir die Räder bewegten und dann auf die Uhr am Turm schauten, hatte sich die Uhrzeit verändert. Uns kam eine Idee: Wir stellten die Uhr auf zwanzigvorzwei, weil wir in der Bibliothek in einem der Bücher diese Uhrzeit gelesen hatten. Als wir auf den roten Knopf gedrückt hatten und zu dem Turm schauten, sahen wir aus dem Wasser eine Art Brücke aus Zahnrädern. Wir gingen über die Brücke in den Uhrenturm. Wir mussten mit Hilfe von zwei Hebeln eine Zahlenkombination einstellen. Als wir das schafften, öffnete sich ein Zahnrad. Das gleiche Zahnrad hatten wir auf der anderen Seite der Insel schon mal gesehen. Wir gingen dorthin. Wir hatten recht. Das große Zahnrad hatte sich geöffnet. In dem großen Zahnrad fanden wir ein Buch. Wir schauten rein. Es war der Weg zu der Maschinenwelt.

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